Polen zwischen Nato und Russland: Geht die Sonne im Westen unter?

(Di Giampiero Venturi)
28/10/15

Unter fast völliger medialer Unklarheit haben die Wahlen in Polen das politische Gleichgewicht in Osteuropa durcheinander gebracht. Der Erdrutschsieg der nationalistischen Rechten und insbesondere von Kaczynskis PIS eröffnet plötzlich die Debatte über Europa und seine Rolle im globalen geopolitischen Kontext neu. Polen ist gemessen an der Einwohnerzahl das sechstgrößte EU-Land und obwohl es weltweit auf Platz 46 in Bezug auf das Pro-Kopf-Einkommen (indexiert nach Kaufkraft) liegt, ist es ein wichtiger Akteur in der NATO, der es 1999, fünf Jahre vor dem Beitritt zur Europäischen Union, beitrat.

Der Sieg der nationalistischen Front muss im Großen und Ganzen in zweierlei Hinsicht gesehen werden. Ein historischer und ein weiterer aktueller Bericht, der sich mit den Entscheidungen Brüssels befasst.

Auf den ersten Blick könnte die künftige monochromatische nationalistische Regierung in Warschau auf eine Wiederbelebung der Beziehungen zu Moskau hindeuten. Trotz der nahezu vollständigen ideologischen Überschneidung mit Orbáns Ungarn weicht Polen gerade aufgrund seiner Russlandpolitik von Budapest ab. Wenn Ungarn Putin explizit in antieuropäischer Weise zuzwinkert, scheint Polen Geisel eines historischen Erbes zu sein, das es dazu zwingt, seine Befreiung von seinem mächtigeren und unbequemeren Nachbarn Russland immer wieder zu erneuern. Wenn man bedenkt, dass Westdeutschland das andere große Spektrum der polnischen Geschichte darstellt, fragt man sich, was die aktuellsten Stoßrichtungen und Bedürfnisse der neuen polnischen Führung sind: eine Außenpolitik im offenen Konflikt mit der EU und Deutschland; eine chauvinistische Politik, die vor allem dem Osten gegenüber misstrauisch ist.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Antwort in der Mitte liegt und dass es sich eher um eine Verschmelzung beider handelt. Die damals von Washington weitgehend befürwortete NATO-Mitgliedschaft Polens war ein wesentlicher Bestandteil der Ausweitung des amerikanischen Einflussbereichs in Osteuropa. Aus polnischer Sicht stellte es jedoch vor allem eine Rache an dem durch den Zweiten Weltkrieg auferlegten politischen Schicksal dar, das Polen zum Beitritt zum Warschauer Pakt zwang (eine Ironie der Geschichte). Es erscheint daher mehr als legitim zu argumentieren, dass der Beitritt Polens zur NATO die Bestätigung seiner neu gewonnenen Unabhängigkeit war.

Andererseits stellte der Beitritt zur Europäischen Union für Polen eine unumgängliche wirtschaftliche Chance dar, eine treibende Kraft für eine beispiellose Entwicklung und Stabilität auf dem Kontinent. Aber angesichts der Wahlen im Oktober 2015 scheint die „Rückkehr in den Westen“ eher mit der Festigung eines angemessenen Lebensstandards als mit der uneingeschränkten Einhaltung von Kultur und Bräuchen verbunden zu sein. Gerade als großes katholisches Reservoir im Osten scheint Polen Lichtjahre von den aktuellen europäischen liberal-progressiven Leitlinien entfernt zu sein.

Zusammen mit der Tschechischen Republik, der Slowakei, Rumänien und dem oft erwähnten Ungarn stellt Polen die Verkörperung eines „neuen Blocks“ im politischen Gleichgewicht Europas dar. Im Sinne der idealen Bezugsprinzipien scheint sie dazu bestimmt zu sein, Anführerin einer Widerstandsfront gegen Übergriffe zu werden neoglobal von Brüssel.

Wie wird dies mit der immerwährenden Pro-NATO-Euphorie in Warschau vereinbar sein?

Welche Rolle werden die polnischen Streitkräfte, die sich durch ihre Stärke, Zahl und Zuverlässigkeit auszeichnen, in einem System spielen, das zwischen dem Bündnis und einer nationalistischen „splendid isolation“ steht?

Dieselben Richtlinien von Kaczynski, dem Vormund der künftigen Ministerpräsidentin Beata Szydlo, lösen den Zweifel nicht auf: „Ja zur NATO, aber die nationale Militärindustrie bleibt privilegiert.“

Mehrere Gründe im Zusammenhang mit der kontinentalen Geopolitik der letzten 20 Jahre haben die NATO effektiv mit einem operativen Arm der europäischen Außenpolitik gleichgesetzt. Selbst dort, wo widersprüchliche ideologische Befunde zu Tage getreten sind (z. B. der Krieg in Libyen 2011), scheint es derzeit keine glaubwürdigen Alternativen für militärische Zusammenschlüsse in Europa zu geben. Wie wird sich Polen in diesem Zusammenhang bewegen? Das Gleichgewicht zwischen dem Atlantikpakt, antieuropäischem, nationalistischem Antideutschismus und Russophobie ist sehr heikel.

Es ist wahrscheinlich, dass Polen, das in den kommenden Jahren der unvermeidlichen Ächtung durch die proeuropäischen Oligarchien ausgesetzt sein wird, in Zukunft zum Vorbild für aufstrebende Regionalmächte werden wird, die sich weigern, jede Art von Gemeinschaftspolitik passiv zu unterstützen. Die bemerkenswerte Distanz Warschaus zur EU in Sachen Einwanderung könnte für viele Nachbarländer sogar zum Bezugspunkt werden.

Trotz der offiziellen Erklärungen und Regierungsprogramme zur Außenpolitik ist daher eine völlige Verflachung Warschaus auf mittel- und langfristige strategische Atlantikziele schwer vorstellbar. Je mehr sich Polen von der Europäischen Union abgrenzt, desto stärker wird seine NATO-Mitgliedschaft sui generis. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die gleiche feindselige Politik gegenüber Russland, dem Schutzpatron aller Anti-Europäer auf dem Kontinent, betroffen sein könnte. In diesem Sinne werden die Beziehungen zu Orbáns Ungarn entscheidend sein. Das neue Klima des Kalten Krieges im Baltikum und in der Ukraine wird der Test der nahen Zukunft sein.

(Foto: Wojsko Polskie)

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