Ungarn, die mobile Grenze Europas

(Di Giampiero Venturi)
01/09/15

Der Wettlauf darum, Ungarn als Nest der Selbstsucht und des Nationalismus zu identifizieren, kennt keine Pause. Er holt tief Luft und zeigt mit dem Finger auf den letzten Verfechter der Selbsterhaltung, der zunehmend am medialen Pranger steht: das antieuropäische Großbritannien.

Es kommt von alleine: Wer da nicht platt macht Bon Tonne Politiker, die moralische Überzeugungen und Freisprüche nach einem einheitlichen Maßstab aussprechen, werden hinausgeworfen bzw. auf den öffentlichen Galgen geworfen.

Heute sind die Zeitungen voll von Ungarn, über das seit den Tagen von Puskás nicht mehr gesprochen wurde. Noch nie in der Neuzeit wurde so viel über die serbisch-ungarische Grenze gesprochen, die angesichts ihrer großen historischen Bedeutung für die meisten selbst geografisch schwer einzuordnen ist. Der Grund ist einfach. Wenn es um Mauern und Einwanderung geht, steht man immer im Rampenlicht.

Die Balkanachse des Menschenhandels ist eine umfassende Realität. Entlang der Mittelmeer-Autobahn, die Millionen armer Menschen übersetzt, hat sich der neue Weg der illegalen Einwanderung und des Kaufens und Verkaufens aus Verzweiflung gefestigt: der Weg, der vom gebeutelten Griechenland und der doppelzüngigen Türkei ausgeht und von Südosten in die Europäische Union eindringt.

Was direkt aus Bulgarien und Rumänien innerhalb der EU kommt, ist offensichtlich keine Neuigkeit. Vor allem aus Bulgarien, das auch eine Landgrenze zur Türkei (und zu Asien) hat. Da beim Kosovo-Krieg die Passage zwischen dem Schwarzen und dem Adriatischen Meer auf die stillschweigende Duldung von Pristina und Tirana bei der Störung des euro-asiatischen Handels zählen kann, kümmert es niemanden, wenn wir darüber reden. Für den empörten Blick des rechtsdenkenden Europäers zählen nur Mauern und Stacheldraht.

Lass uns besser sehen.

Der Stacheldraht, der sich über die (knappen) 200 km der serbisch-ungarischen Grenze erstreckt, hat eine böswillige und unverhältnismäßige politische Besorgnis ausgelöst. Auf der Titelseite stehen Seghedino (das ungarische Szeged) und die Ortschaft Roszke, die direkt an der Grenze liegt, in Wirklichkeit aber eine bewegliche Linie tausendjähriger geopolitischer Gleichgewichte ist. Auf den fruchtbaren Ebenen, die heute Gegenstand obsessiver journalistischer Aufmerksamkeit sind, haben sich seit Jahrhunderten Ungarn, Habsburger, Osmanen und serbische Fürsten abgewechselt und sich mal unterhalb, mal oberhalb ihrer jeweiligen Einflusssphären bewegt.

Das Land zwischen Subotica und Roszke ist eine ewige Grenze, weit über die derzeitige Grenzlinie zwischen Ungarn und der Serbischen Republik hinaus. Wäre dies der Fall, gäbe es selbst unter Berücksichtigung des Beitritts Budapests zur EU (nur 44 % der Wahlberechtigten!) und zur NATO keine besonderen Feindseligkeiten.

Die serbische Provinz an der Grenze zu Ungarn ist die Vojvodina, ein Gebiet mit einer starken magyarischen Präsenz und der Wiege von Forderungen nach Autonomie aus Belgrad, die nie abgelehnt wurden. Es gibt weniger kulturelle Unterschiede zwischen Nordserbien und Südungarn, als man annehmen könnte. Das gesamte Gebiet, das sich bis nach Siebenbürgen erstreckt, ist Teil jenes europäischen Grenzgebiets, das bis zum XNUMX. Jahrhundert die türkische Expansion akzeptierte und die Folgen oft mit Blut bezahlte. 

Ungarn als Abschieber verzweifelter Asylbewerber und Erbauer von Mauern gegen die Menschlichkeit darzustellen, ist historisch, moralisch und geografisch lächerlich.

Der Stacheldraht, der heute um den verschlafenen Fluss Theiß verläuft, hätte auch ein paar hundert Kilometer weiter südlich, zwischen Serbien und Mazedonien oder zwischen Mazedonien und Griechenland, verlegt werden können, ohne die Wurzeln der Überlegung zu beeinträchtigen: Wenn Europa existieren will, dann muss sich zu einer Identität erkennen. Was auch immer es ist, jede Identität trägt das Konzept der Aufrechterhaltung in sich.

Unabhängig von den idealen Beweggründen muss die ungarische Entscheidung, eine Barriere zu errichten und die Grenze zu militarisieren, auf jeden Fall im Lichte einer praktischen Notwendigkeit gesehen werden. Roszke ist mit der Serbischen Republik (Subotica, vor allem aber dem nicht weit entfernten und wichtigen Novi Sad) durch eine große Autobahn, eine Eisenbahn und einen wichtigen Nebenfluss der Donau verbunden. Die gesamte landwirtschaftlich genutzte und flache Region ermöglicht eine schnelle Fortbewegung und ein einfaches Eindringen ohne natürliche Hindernisse. In Ermangelung einer gemeinsamen europäischen Politik beschränkt sich Budapest darauf, sein Ding durchzuziehen. Wir sind empört über eine Stacheldrahtrolle in Roszke, aber wir übersehen die Mauer zwischen Texas und Mexiko in Obamas Amerika. Dasselbe Amerika, das aus Sicherheitsgründen Milliarden von Menschen gezwungen hat, ihre Pässe zu ändern. Die Welt ist seltsam.

Da steckt tatsächlich noch mehr dahinter. Der Grund, warum Ungarn oft auf der Anklagebank sitzt, ist im Wesentlichen politischer Natur.

Budapest steht bereits seit einigen Jahren im Fokus der Kritik und steht unter besonderer Beobachtung und gehört standardmäßig zu den Rebellen gegen die bankendeutsche Integrationsmaschinerie.

Fidesz und Führer Viktor Orban sind das Gegenstück dazu politisch korrekt Europäisch. Nicht einmal Haiders Österreich schaffte es, sich so viele Feinde zu machen.

Die „Mauer“ an der Grenze ist nur die jüngste der fadenscheinigen Kontroversen, die in letzter Zeit angeheizt wurden. Vor allem die Verfassungsänderungen ab 2011 haben es geschafft, als konfessionell, klerikal und libertizid gebrandmarkt zu werden, weil sie dem Trend der Leitlinien eines Europas zuwiderlaufen, das, um die Sensibilität anderer nicht zu verletzen, sogar leugnet seine eigenen christlichen Ursprünge. Richtlinien zu Ehe, Adoption und Paarrechten wurden von den europäischen Demokratien abgelehnt, ebenso wie die Bevorzugung der katholischen Religion und die Gesetze, die die Kommunistische Partei verbot.

Es ist nicht nur eine Frage der Sichtweise. All dies sollte vielleicht im Lichte der ungarischen Geschichte gelesen werden, die mehr als jede andere die Bedeutung der Freiheit und den Preis, den man für ihre Verteidigung zu zahlen bereit ist, lehren kann.

In dieser Hinsicht hat das Schicksal seine eigene Ironie. Ungarn, das 56 gegen die sowjetischen Panzer rebellierte, blickt heute mit einem sehr starken ideellen Impuls auf Putins Russland. Vielleicht ist es das, was Brüssel am meisten irritiert, da es sowohl als Referenz für die europäischen Institutionen als auch als NATO-Hauptquartier beunruhigt ist.

Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass der auf Budapest gerichtete Finger heute denen gehört, die sich 56, als Ungarn die Meinungs- und Lebensfreiheit mit Blut verteidigte, abwandten.

Die Moral ist ein periodischer Zug, der oft zweigleisig verläuft.